Lasst Kinder wieder Kinder sein!
Oder: Die Rückkehr zur Intuition
Die Rückkehr zur Intuition - damit Kinder wieder glücklich aufwachsen
Der erfahrene Kinderpsychiater Michael Winterhoff zeigt, was Erwachsene tun können, damit Kinder glücklich aufwachsen. Er erörtert, wie ein Abschied vom Trugbild endloser...
Der erfahrene Kinderpsychiater Michael Winterhoff zeigt, was Erwachsene tun können, damit Kinder glücklich aufwachsen. Er erörtert, wie ein Abschied vom Trugbild endloser...
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Klappentext zu „Lasst Kinder wieder Kinder sein! “
Die Rückkehr zur Intuition - damit Kinder wieder glücklich aufwachsenDer erfahrene Kinderpsychiater Michael Winterhoff zeigt, was Erwachsene tun können, damit Kinder glücklich aufwachsen. Er erörtert, wie ein Abschied vom Trugbild endloser Freiheit eine Rückkehr zu einer natürlich-positiven Erziehung ermöglicht, und erklärt, wie Eltern wieder eine gesunde Beziehung zu ihren Kindern aufbauen und ihnen so positive Werte und Stabilität mit auf den Weg geben können.
Damit Kinder wieder Kinder sein dürfen!
Lese-Probe zu „Lasst Kinder wieder Kinder sein! “
Lasst Kinder wieder Kinder sein! von Michael Winterhoff Ein Wort vorweg - Warum ich dieses Buch schreibe
Vielleicht kennen Sie das: Der Tag neigt sich dem Ende entgegen, die Arbeit ist getan, die Kinder sind im Bett, Ruhe kehrt ein. Ruhe? Keineswegs. Objektiv mag um Sie herum zwar Ruhe herrschen, doch in Ihnen rotiert etwas immer weiter. Die Gedanken lassen Sie nicht los, Gedanken an den abgelaufenen Tag, Gedanken an den neuen Tag, seine Anforderungen, den zu erwartenden Stress.
Dieser Zustand, der für Menschen in speziellen, krisenbehafteten Lebensphasen nicht ungewöhnlich ist, scheint zum Beginn des 21. Jahrhunderts von der Ausnahme zur Normalität geworden zu sein. Bücher erscheinen, Zeitschriften produzieren Geschichte um Geschichte, Sonderheft um Sonderheft, die Arztpraxen sind voll mit Patienten, welche die Symptomatik zeigen, um die es in den Büchern und Heften geht. Namen hat das Leiden, von dem die Rede ist, viele: Depression, Burn-out, Stress, Mega-Stress, Erschöpfungssyndrom, um nur einige zu nennen.
Wie auch immer man es nennen und voneinander abgrenzen mag: Das Gefühl der persönlichen Überforderung ist eines der Krisensymptome der modernen Gesellschaft.
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Für viele Menschen beschränkt sich das nicht auf die abendliche Gedankenrotation. Überlegen Sie selbst: Fühlen Sie sich überdurchschnittlich oft gehetzt, von einer unsichtbaren Kraft immer weiter getrieben, ohne Möglichkeit, zwischendurch zur notwendigen Ruhe zu kommen? Tun Sie sich schwer, selbst kleine Entscheidungen schnell zu treffen, weil Sie Angst vor den Auswirkungen haben? Haben Sie immer häufiger die Befürchtung, die Arbeit nicht zu bewältigen oder den Anforderungen Ihres privaten Umfeldes nicht gerecht werden zu können? Wer sich umhört im Bekanntenkreis, auf andere Menschen achtet, in sich selbst hineinhorcht, merkt schnell: All diese Fragen sind mehr oder weniger rhetorischer Natur, sehr viele Menschen haben heute das Gefühl, ständig nur noch Listen abarbeiten zu müssen und den täglichen Anforderungen kaum nachkommen zu können.
Das Auftreten von Überforderungssymptomen, von Stresssituationen ist indes natürlich nicht neu und auch nicht der Anlass für mich, mich damit zu befassen. Die meisten Menschen erleben persönliche Krisen, in denen diese Symptome vollkommen normal sind. Das kann das Ende einer Liebesbeziehung genauso sein wie der Tod eines nahestehenden Menschen, eine schwere Erkrankung oder andere schlimme Dinge. In diesen Krisenzeiten ist es für den Einzelnen ganz normal, nicht zur Ruhe zu kommen, sich mit dem Alltag überfordert zu fühlen und irgendwie neben sich zu stehen. Das ändert sich in der Regel, wenn diese persönliche Krise überwunden ist, die Normalität wieder in den Fokus rückt und der Stress nachlässt.
Davon ist in diesem Buch aber nicht die Rede. Mir geht es um einen Dauerzustand, eine Krise ohne ganz konkreten individuellen Anlass, die nach und nach immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft erreicht und sich damit auf diese und nachfolgende Generationen auswirkt.
Damit ist auch der Grund benannt, warum ich als Kinderpsychiater dieses Buch schreibe. Für individuelle Lebenskrisen von Erwachsenen wäre ich zunächst einmal gar nicht »zuständig«. Das gesellschaftliche Krisensymptom, das ich hier analysiere, wirkt sich aber auf unser Verhältnis zu Kindern aus, auf die Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen, seien es Eltern, Großeltern, pädagogisch tätige Menschen wie Lehrer oder Erzieherinnen oder alle anderen, die mit Kindern umgehen.
Wir alle lieben Kinder, und ich habe nicht zuletzt aus dieser Tatsache heraus auch meinen Beruf ergriffen. Es ist schön, Kinder zu haben, und ohne sie ist eine Gesellschaft weder denkbar noch überlebensfähig. Trotzdem erleben wir in den letzten Jahren einen Trend der öffentlichen Berichterstattung über Kinder, in denen diese vor allem als Problemfälle erscheinen.
Dafür gibt es handfeste Gründe. Die Zahl der emotional und sozial auffälligen Kinder und Jugendlichen steigt in der Tat in besorgniserregendem Maße. Sahen Grundschullehrer vor 20 Jahren in ihrer Klasse einen kleinen Teil auffällige Kinder, während der Rest sich auf einem altersgemäßen Entwicklungsniveau befand, so haben sich heute oft die Verhältnisse umgedreht. In Grundschulen gehört es heute zum ganz normalen Alltag, dass die ersten Monate nach der Einschulung weniger damit angefüllt sind, mit dem Erlernen des Lesens, des Schreibens, des Rechnens zu beginnen. Bevor es so weit ist, müssen Lehrer sich zunächst einmal damit befassen, einigermaßen sicherzustellen, dass Unterricht überhaupt möglich ist, sprich: zu erreichen, dass der Großteil der Klasse sich auf den Unterricht und den Lehrer konzentriert, ihm zuhört und Regeln akzeptiert, ohne die eine Klassengemeinschaft nicht funktionieren kann. Dazu sind heute immer weniger Kinder in der Lage, weil ihnen die notwendigen Entwicklungsschritte der Psyche im sozialen und emotionalen Bereich fehlen. Der Lehrer wird dadurch nicht als Lehrer erkannt, das Gleiche gilt für Strukturen und Abläufe, die für den Lernerfolg notwendig sind.
Wer sich darüber wundert, beklagt sich in der Regel, dass die Kinder schlecht erzogen seien. Darüber wird dann viel diskutiert, die Zahl und Heftigkeit der Streitigkeiten über Erziehungsstile und -methoden in den letzten Jahren sind Legende.
Meine Arbeit als Kinderpsychiater hat demgegenüber einen ganz anderen Schwerpunkt. Ich mache mir nicht so sehr Gedanken über diese Stile und Methoden, spreche auch nicht über die beliebten Themen Disziplin, Ordnung, Grenzen setzen oder andere Standardthemen der Diskussion. Ich beschäftige mich mit der Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern, stelle die Frage, ob Kinder im Erwachsenen heute noch in ausreichendem Maße ein Gegenüber vorfinden, an dem sie sich orientieren und entwickeln können, an dem sie im besten Sinne des Wortes »er-wachsen« können.
Diese Frage muss für die letzten Jahre in zunehmendem Maße mit Nein beantwortet werden. Kinder werden heute in großer Zahl im Rahmen einer Symbiose groß. So bezeichne ich eine Form der Beziehungsstörung, die sich hauptsächlich im familiären Rahmen, also zwischen Eltern und Kindern, beobachten lässt. Eltern unterscheiden dabei nicht mehr zwischen sich und ihrem Kind, sondern denken und handeln, als wenn es sich beim Nachwuchs um einen Teil ihrer selbst handeln würde. Aus diesem Grunde spreche ich von einer Symbiose, also einer Verschmelzung der Psyche von Eltern und Kind. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass dieser Vorgang unbewusst ist. Es geht also nicht darum, schuldhaft Eltern vorzuwerfen, sie behandelten ihre Kinder falsch. Und eben deswegen geht es auch nicht um falsche oder fehlerhafte Erziehung.
Die Erziehungsbemühungen von Eltern sind heute vielleicht größer denn je. Eltern interessieren sich für ihre Kinder, sie opfern ihre Zeit, sie kümmern sich zwischen A wie Aufstehen und Z wie Zubettgehen um alles, was ihre Kinder angeht. Und sie erziehen anders, als es in früheren Zeiten üblich war, weil sie gelernt haben, dass Härte und Druck in der Erziehung nichts zu suchen haben.
Man sollte meinen, dass diese Entwicklung die Zunft der Kinderpsychiater zum Aussterben gebracht hätte. Das ist nicht der Fall. Fakt ist jedoch, dass ich in meiner Funktion heute mit ganz anderen Störungsbildern beschäftigt bin, deren Ursachen nicht mehr primär im Familiensystem liegen, sondern auf große Veränderungen im »System Gesellschaft« zurückzuführen sind.
Wenn mir vor 15 Jahren ein Kind wegen bestimmter Auffälligkeiten vorgestellt wurde, lag die Ursache für das Verhalten des Kindes in den meisten Fällen in der individuellen Lebensgeschichte der Eltern. Dazu war es wichtig zu erfahren, wie die Eltern groß geworden sind und wie sie sich als Kind gefühlt haben. Manchmal spielte auch das Erleben der Schwangerschaft und der Geburt eine Rolle. Gerade negative Erlebnisse mit den eigenen Eltern konnten sich auf den Umgang mit den eigenen Kindern auswirken.
Diese »klassischen« Fälle gibt es natürlich immer noch, doch mit der steten Zunahme der problematischen Fälle wurde mir deutlich, dass hier nicht mehr in jedem einzelnen Fall eine solche individuelle Problemgeschichte vorliegen konnte, die für das nicht altersgemäße Verhalten verantwortlich war. Ganz offensichtlich hatte sich hier eine anders gelagerte Dynamik entwickelt, die es zu analysieren galt, um den neuen Herausforderungen Herr zu werden.
Es geht eben nicht mehr primär um die Auswirkungen der eigenen Lebensgeschichte auf das Verhalten dem Kind gegenüber, sondern maßgeblich um gesellschaftliche Prozesse, die das Erwachsenen-Kind-Verhältnis verändern. Diese Erkenntnis ist immer mein Antrieb gewesen, mich mit der Thematik zu beschäftigen. Die Sorge um die Zukunft dieser Kinder und damit um die Zukunft unserer Gesellschaft war auch meine Triebfeder, meine Analyse bekannt zu machen. Damit sollten eindeutige Voraussetzungen geschaffen werden, gegensteuern zu können und Kindern wieder die Möglichkeit einer altersgemäßen Entwicklung ihrer Psyche zu ermöglichen.
Ziel dieses Buches im Speziellen und meiner Arbeit im Allgemeinen ist also niemals irgendeine Form von Schuldzuweisung oder Anklage, sondern Aufklärung. Aufklärung über gesellschaftliche Zusammenhänge, die sich auf die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern auswirken und dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche zunehmend keine Chance haben, sich in einem entscheidenden Bereich ihrer Psyche zu entwickeln. Sie stagnieren in einem immer früheren Alter emotional und sozial, selbst wenn sie sich in anderer Hinsicht durchaus altersgemäß verhalten. Aus dieser Stagnation erklären sich dann die Auffälligkeiten, denen man heute überall begegnet und für die in der Regel eine fehlende oder falsche Erziehung im Elternhaus als Grund angeführt wird.
Die Auffälligkeiten, um die es dabei geht, können beispielsweise eine zunehmend fehlende Lern- und Leistungsbereitschaft sein, genauso wie Schwierigkeiten im sozialen Miteinander, fehlende Fähigkeit, in Konflikten eigene Anteile zu sehen, oder Wahrnehmungsprobleme. Schließlich spielt auch die Suchtproblematik eine Rolle, gerade im Bereich neuartiger Phänomene wie Online-Sucht. Beim Übergang von der Schule in den Beruf werden die Probleme besonders deutlich. So enthielt auch der Bundesbildungsbericht 2010 besorgniserregend hohe Zahlen im Bereich der nicht ausbildungsreifen Jugendlichen. Gleichzeitig steigt die Zahl der Betriebe, die nicht mehr ausbilden oder dies zumindest überlegen, weil sie seit Jahren keine geeigneten Bewerber mehr für ihre freien Stellen finden. Die Probleme der Jugendlichen zeigen sich dabei auf zwei Ebenen. Es fehlt sowohl an Fähigkeiten in den ganz normalen Kulturtechniken wie Lesen und Rechnen als auch an Sekundärtugenden wie Arbeitshaltung, Pünktlichkeit, Höflichkeit und Umgang mit anderen Menschen. Abläufe werden nicht erkannt, sodass viele Arbeiten gar nicht geleistet werden können, es fehlt an Empathie und dem Blick für die Bedürfnisse der Kollegen, sodass eine gedeihliche Zusammenarbeit kaum möglich ist.
All diese Dinge führen zu Unruhe und immer höherer Belastung für Eltern, Großeltern, Lehrer, Erzieherinnen, also für jeden, der in irgendeinem Zusammenhang erzieherisch mit Kindern umgeht. Sie sehen sich stetigen Vorwürfen von Seiten der Gesellschaft ausgesetzt, viele »Experten« sagen ihre Meinung, bis hin zur totalen Boulevardisierung des Themas in Form von TV-Formaten wie der »Super- Nanny«.
Umso wichtiger ist die Feststellung, die auch als Folie für die Analyse in diesem Buch dienen kann: Die überwiegende Zahl dieser Kinder wirkt wie unerzogen, ist aber im Großen und Ganzen eher gut erzogen. Sie wirken wie unwillig, sind aber in Wirklichkeit überfordert.
Den Hintergrund dafür bilden also weder fehlende Erziehung noch individuelle neurotische Störungsbilder, sondern Entwicklungsstörungen im Hinblick auf die Psyche des Kindes.
Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass Kinder mit einer fertig entwickelten Psyche geboren werden. Wenn das der Fall wäre, könnten partnerschaftliche Beziehungsmodelle zwischen Erwachsenen und Kindern, wie sie heute schon in ganz frühen Jahren die Regel sind, tatsächlich Erfolg haben und das Kind gut begleiten. Es hat aber seinen Grund, warum ein partnerschaftlicher Erziehungsstil erst bei Jugendlichen im pubertierenden Alter nach und nach angebracht ist. Jüngere Kinder werden davon restlos überfordert, ihre Psyche bildet sich maßgeblich in Abhängigkeit vom Verhalten der sie umgebenden Erwachsenen, also insbesondere der Eltern.
Dieses erwachsene Verhalten ist eigentlich in uns angelegt, es liegt uns im Blut. Die Rede ist von Intuition. Einer Intuition, die Eltern ganz selbstverständlich mit ihren kleinen Kindern umgehen lässt, ohne sich Gedanken über Erziehungsstile und pädagogische Modelle zu machen.
Denken Sie an das Beispiel einer Mutter, die gerade eben ein Kind geboren hat. Der Säugling ist nicht in der Lage, sein Hungergefühl auch nur einen kurzen Moment zu unterdrücken und auszuhalten (was einem erwachsenen Menschen durchaus über einen längeren Zeitraum möglich ist). Sobald sich der Hunger meldet, meldet sich auch der Säugling. Er schreit. Das Verhalten der Mutter ist in diesem Moment keine Frage des Nachdenkens. Ihre Intuition weist ihr den Weg und führt dazu, dass sie sich sofort liebevoll dem Kind zuwendet und es sättigt. Wichtig in unserem Zusammenhang: Sie macht es aus dem Bauch heraus, denn würde sie den Säugling schreien lassen, führte das bei ihr selbst zu negativen körperlichen Reaktionen wie Schweißausbrüchen, Zittern und Ähnlichem. Sie wüsste intuitiv, dass sie sich falsch verhält, und würde Abhilfe schaffen, indem der Hunger des Kindes sofort gestillt wird.
Dieselbe Intuition führt dazu, dass die Mutter ein Kind mit etwa acht oder neun Monaten auch mal einen Moment warten lassen kann. Das Schreien löst nicht mehr die gleichen körperlichen Unruhezeichen aus, sondern aus ihrer inneren Ruhe und Intuition heraus »weiß« die Mutter, dass ein kurzer Moment des Wartens für das Kind in Ordnung ist. Dieser Moment, so kurz er auch sein mag, ist für die Psyche des Kindes von großer Bedeutung; er würde dem Kind ermöglichen zu erleben, dass es einmal einen kleinen Augenblick warten muss. Diese wichtige Erfahrung, dass ein Bedürfnis nicht immer sofort zufriedengestellt wird, würde bei einer fortlaufenden psychischen Entwicklung im Kindes- und Jugendalter dazu führen, dass dieses Kind auf späteren Altersstufen seine Bedürfnisse zu regeln versteht.
Als Erwachsene »wissen« wir, dass wir nicht immer alles sofort bekommen können. Dieses »Wissen« ist aber ein implizit psychisch angelegtes Wissen, das nicht auf einem verstandesmäßigen Erfassen beruht. Wir denken nicht dauernd darüber nach, ob wir ein Bedürfnis jetzt oder später befriedigen, sondern regeln solche Dinge ganz automatisch. Wenn ich in einer Besprechung sitze, stelle ich Bedürfnisse wie Hunger, Müdigkeit, emotionale Befindlichkeiten ganz selbstverständlich zurück und konzentriere mich auf meinen Gesprächspartner und den Inhalt der Besprechung. Ich weiß, essen, schlafen, andere Bedürfnisse sind zu einem anderen Zeitpunkt dran.
Die Frage, ab wann die Mutter ihr Kind einen kleinen Moment warten lassen kann, ist nicht über den Kopf zu steuern, sondern ausschließlich über das Bauchgefühl. Es kann kein Ratgeberwissen geben, das bestimmt, ob dieser Moment mit acht, mit neun oder auch erst mit zehn Monaten gekommen ist. Die Mutter selbst würde, wenn sie in einem intuitiven Verhältnis zu ihrem Kind ist, diesen Zeitpunkt bemerken und ab da ganz selbstverständlich so vorgehen. Auch die Länge des Wartens kann nicht vorgegeben werden. Die klassischen Ratschläge früherer Zeiten, in denen Eltern aufgefordert werden, in bestimmten Situationen bis zu einer bestimmten Zahl zu zählen, funktionieren so nicht. Das eine Kind kann eine Minute warten, das andere zwei. Die Mutter würde den richtigen Zeitraum auch hier wieder über die Beziehung zu ihrem Kind individuell herausfinden.
Doch nicht nur Eltern, auch Erwachsene, die im Bereich der öffentlichen Erziehung mit Kindern zu tun haben, sind in Gefahr, mit unangemessenen Verhaltensweisen die kindliche Psyche zu belasten, wie folgendes Extrembeispiel zeigt. Es ist einem Blog entnommen und beschreibt Vorgänge an einer Berliner Grundschule in der Folge der katastrophalen Geschehnisse in Japan im Frühjahr 2011:
»Was dieser Tage in der Schule meiner zwei Kinder (5. + 6. Klasse) abgeht, spottet jeder Beschreibung. Zum Teil kennt man das ja noch aus eigenen Schulzeiten, allerdings nicht aus der Grundschule. Dauernd musste man über das Waldsterben, das Ozonloch und den Atomkrieg schreiben, und irgendwelche Friedens-AGs haben auf dem Schulhof ›Fallout mit Sirenengeheul und anschließendem Niedersinken‹ oder ›Hilfe-wir-haben-demnächst- alle-Hautkrebs‹ veranstaltet usw. Aber so richtig ernsthaft psychisch mitgenommen hat das damals niemanden, soweit ich mich erinnere. Das ist jetzt offenbar anders. Ein Drittel der 5. Klasse ist inzwischen abwesend; Panikattacken, Nahrungsverweigerung oder Schlafmangel. [...]
Innerhalb einer Woche haben die beiden im Unterricht jeweils drei Filme zu Atomkatastrophen gesehen (eine vom Schulministerium über Tschernobyl, einen Spielfilm über eine [Atom?-]Giftwolke in Deutschland und einen über, glaube ich, Hiroshima; mit geburtsdefekten Lämmchen und haufenweise Verbrennungen in Schwarzweiß), 1 x Strahlenschutzanzüge aus Alufolien entworfen, 2 x an japanische Kinder, denen der Strahlentod droht, geschrieben, gefährliche Nahrungsmittel diskutiert, Milchpulver gehortet und an unzähligen Monologen der Lehrkräfte und der Stuhlkreisteilnehmer über ihre Angst vor dem Atom und dem Krebstod teilgenommen.«
Das mag auf den ersten Blick extrem wirken, es zeigt jedoch, warum wir die Dinge als Ganzes betrachten müssen. Kinder orientieren sich immer am Erwachsenen, ob gewollt oder ungewollt, ob es sich um Eltern, Lehrer, Erzieher, Großeltern oder wen auch immer handelt. Damit gestalten wir automatisch die Zukunft, in der wir zu einem kleineren, aber unsere Kinder und Enkel zu einem größeren Teil leben werden.
© Januar 2014 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Für viele Menschen beschränkt sich das nicht auf die abendliche Gedankenrotation. Überlegen Sie selbst: Fühlen Sie sich überdurchschnittlich oft gehetzt, von einer unsichtbaren Kraft immer weiter getrieben, ohne Möglichkeit, zwischendurch zur notwendigen Ruhe zu kommen? Tun Sie sich schwer, selbst kleine Entscheidungen schnell zu treffen, weil Sie Angst vor den Auswirkungen haben? Haben Sie immer häufiger die Befürchtung, die Arbeit nicht zu bewältigen oder den Anforderungen Ihres privaten Umfeldes nicht gerecht werden zu können? Wer sich umhört im Bekanntenkreis, auf andere Menschen achtet, in sich selbst hineinhorcht, merkt schnell: All diese Fragen sind mehr oder weniger rhetorischer Natur, sehr viele Menschen haben heute das Gefühl, ständig nur noch Listen abarbeiten zu müssen und den täglichen Anforderungen kaum nachkommen zu können.
Das Auftreten von Überforderungssymptomen, von Stresssituationen ist indes natürlich nicht neu und auch nicht der Anlass für mich, mich damit zu befassen. Die meisten Menschen erleben persönliche Krisen, in denen diese Symptome vollkommen normal sind. Das kann das Ende einer Liebesbeziehung genauso sein wie der Tod eines nahestehenden Menschen, eine schwere Erkrankung oder andere schlimme Dinge. In diesen Krisenzeiten ist es für den Einzelnen ganz normal, nicht zur Ruhe zu kommen, sich mit dem Alltag überfordert zu fühlen und irgendwie neben sich zu stehen. Das ändert sich in der Regel, wenn diese persönliche Krise überwunden ist, die Normalität wieder in den Fokus rückt und der Stress nachlässt.
Davon ist in diesem Buch aber nicht die Rede. Mir geht es um einen Dauerzustand, eine Krise ohne ganz konkreten individuellen Anlass, die nach und nach immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft erreicht und sich damit auf diese und nachfolgende Generationen auswirkt.
Damit ist auch der Grund benannt, warum ich als Kinderpsychiater dieses Buch schreibe. Für individuelle Lebenskrisen von Erwachsenen wäre ich zunächst einmal gar nicht »zuständig«. Das gesellschaftliche Krisensymptom, das ich hier analysiere, wirkt sich aber auf unser Verhältnis zu Kindern aus, auf die Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen, seien es Eltern, Großeltern, pädagogisch tätige Menschen wie Lehrer oder Erzieherinnen oder alle anderen, die mit Kindern umgehen.
Wir alle lieben Kinder, und ich habe nicht zuletzt aus dieser Tatsache heraus auch meinen Beruf ergriffen. Es ist schön, Kinder zu haben, und ohne sie ist eine Gesellschaft weder denkbar noch überlebensfähig. Trotzdem erleben wir in den letzten Jahren einen Trend der öffentlichen Berichterstattung über Kinder, in denen diese vor allem als Problemfälle erscheinen.
Dafür gibt es handfeste Gründe. Die Zahl der emotional und sozial auffälligen Kinder und Jugendlichen steigt in der Tat in besorgniserregendem Maße. Sahen Grundschullehrer vor 20 Jahren in ihrer Klasse einen kleinen Teil auffällige Kinder, während der Rest sich auf einem altersgemäßen Entwicklungsniveau befand, so haben sich heute oft die Verhältnisse umgedreht. In Grundschulen gehört es heute zum ganz normalen Alltag, dass die ersten Monate nach der Einschulung weniger damit angefüllt sind, mit dem Erlernen des Lesens, des Schreibens, des Rechnens zu beginnen. Bevor es so weit ist, müssen Lehrer sich zunächst einmal damit befassen, einigermaßen sicherzustellen, dass Unterricht überhaupt möglich ist, sprich: zu erreichen, dass der Großteil der Klasse sich auf den Unterricht und den Lehrer konzentriert, ihm zuhört und Regeln akzeptiert, ohne die eine Klassengemeinschaft nicht funktionieren kann. Dazu sind heute immer weniger Kinder in der Lage, weil ihnen die notwendigen Entwicklungsschritte der Psyche im sozialen und emotionalen Bereich fehlen. Der Lehrer wird dadurch nicht als Lehrer erkannt, das Gleiche gilt für Strukturen und Abläufe, die für den Lernerfolg notwendig sind.
Wer sich darüber wundert, beklagt sich in der Regel, dass die Kinder schlecht erzogen seien. Darüber wird dann viel diskutiert, die Zahl und Heftigkeit der Streitigkeiten über Erziehungsstile und -methoden in den letzten Jahren sind Legende.
Meine Arbeit als Kinderpsychiater hat demgegenüber einen ganz anderen Schwerpunkt. Ich mache mir nicht so sehr Gedanken über diese Stile und Methoden, spreche auch nicht über die beliebten Themen Disziplin, Ordnung, Grenzen setzen oder andere Standardthemen der Diskussion. Ich beschäftige mich mit der Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern, stelle die Frage, ob Kinder im Erwachsenen heute noch in ausreichendem Maße ein Gegenüber vorfinden, an dem sie sich orientieren und entwickeln können, an dem sie im besten Sinne des Wortes »er-wachsen« können.
Diese Frage muss für die letzten Jahre in zunehmendem Maße mit Nein beantwortet werden. Kinder werden heute in großer Zahl im Rahmen einer Symbiose groß. So bezeichne ich eine Form der Beziehungsstörung, die sich hauptsächlich im familiären Rahmen, also zwischen Eltern und Kindern, beobachten lässt. Eltern unterscheiden dabei nicht mehr zwischen sich und ihrem Kind, sondern denken und handeln, als wenn es sich beim Nachwuchs um einen Teil ihrer selbst handeln würde. Aus diesem Grunde spreche ich von einer Symbiose, also einer Verschmelzung der Psyche von Eltern und Kind. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass dieser Vorgang unbewusst ist. Es geht also nicht darum, schuldhaft Eltern vorzuwerfen, sie behandelten ihre Kinder falsch. Und eben deswegen geht es auch nicht um falsche oder fehlerhafte Erziehung.
Die Erziehungsbemühungen von Eltern sind heute vielleicht größer denn je. Eltern interessieren sich für ihre Kinder, sie opfern ihre Zeit, sie kümmern sich zwischen A wie Aufstehen und Z wie Zubettgehen um alles, was ihre Kinder angeht. Und sie erziehen anders, als es in früheren Zeiten üblich war, weil sie gelernt haben, dass Härte und Druck in der Erziehung nichts zu suchen haben.
Man sollte meinen, dass diese Entwicklung die Zunft der Kinderpsychiater zum Aussterben gebracht hätte. Das ist nicht der Fall. Fakt ist jedoch, dass ich in meiner Funktion heute mit ganz anderen Störungsbildern beschäftigt bin, deren Ursachen nicht mehr primär im Familiensystem liegen, sondern auf große Veränderungen im »System Gesellschaft« zurückzuführen sind.
Wenn mir vor 15 Jahren ein Kind wegen bestimmter Auffälligkeiten vorgestellt wurde, lag die Ursache für das Verhalten des Kindes in den meisten Fällen in der individuellen Lebensgeschichte der Eltern. Dazu war es wichtig zu erfahren, wie die Eltern groß geworden sind und wie sie sich als Kind gefühlt haben. Manchmal spielte auch das Erleben der Schwangerschaft und der Geburt eine Rolle. Gerade negative Erlebnisse mit den eigenen Eltern konnten sich auf den Umgang mit den eigenen Kindern auswirken.
Diese »klassischen« Fälle gibt es natürlich immer noch, doch mit der steten Zunahme der problematischen Fälle wurde mir deutlich, dass hier nicht mehr in jedem einzelnen Fall eine solche individuelle Problemgeschichte vorliegen konnte, die für das nicht altersgemäße Verhalten verantwortlich war. Ganz offensichtlich hatte sich hier eine anders gelagerte Dynamik entwickelt, die es zu analysieren galt, um den neuen Herausforderungen Herr zu werden.
Es geht eben nicht mehr primär um die Auswirkungen der eigenen Lebensgeschichte auf das Verhalten dem Kind gegenüber, sondern maßgeblich um gesellschaftliche Prozesse, die das Erwachsenen-Kind-Verhältnis verändern. Diese Erkenntnis ist immer mein Antrieb gewesen, mich mit der Thematik zu beschäftigen. Die Sorge um die Zukunft dieser Kinder und damit um die Zukunft unserer Gesellschaft war auch meine Triebfeder, meine Analyse bekannt zu machen. Damit sollten eindeutige Voraussetzungen geschaffen werden, gegensteuern zu können und Kindern wieder die Möglichkeit einer altersgemäßen Entwicklung ihrer Psyche zu ermöglichen.
Ziel dieses Buches im Speziellen und meiner Arbeit im Allgemeinen ist also niemals irgendeine Form von Schuldzuweisung oder Anklage, sondern Aufklärung. Aufklärung über gesellschaftliche Zusammenhänge, die sich auf die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern auswirken und dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche zunehmend keine Chance haben, sich in einem entscheidenden Bereich ihrer Psyche zu entwickeln. Sie stagnieren in einem immer früheren Alter emotional und sozial, selbst wenn sie sich in anderer Hinsicht durchaus altersgemäß verhalten. Aus dieser Stagnation erklären sich dann die Auffälligkeiten, denen man heute überall begegnet und für die in der Regel eine fehlende oder falsche Erziehung im Elternhaus als Grund angeführt wird.
Die Auffälligkeiten, um die es dabei geht, können beispielsweise eine zunehmend fehlende Lern- und Leistungsbereitschaft sein, genauso wie Schwierigkeiten im sozialen Miteinander, fehlende Fähigkeit, in Konflikten eigene Anteile zu sehen, oder Wahrnehmungsprobleme. Schließlich spielt auch die Suchtproblematik eine Rolle, gerade im Bereich neuartiger Phänomene wie Online-Sucht. Beim Übergang von der Schule in den Beruf werden die Probleme besonders deutlich. So enthielt auch der Bundesbildungsbericht 2010 besorgniserregend hohe Zahlen im Bereich der nicht ausbildungsreifen Jugendlichen. Gleichzeitig steigt die Zahl der Betriebe, die nicht mehr ausbilden oder dies zumindest überlegen, weil sie seit Jahren keine geeigneten Bewerber mehr für ihre freien Stellen finden. Die Probleme der Jugendlichen zeigen sich dabei auf zwei Ebenen. Es fehlt sowohl an Fähigkeiten in den ganz normalen Kulturtechniken wie Lesen und Rechnen als auch an Sekundärtugenden wie Arbeitshaltung, Pünktlichkeit, Höflichkeit und Umgang mit anderen Menschen. Abläufe werden nicht erkannt, sodass viele Arbeiten gar nicht geleistet werden können, es fehlt an Empathie und dem Blick für die Bedürfnisse der Kollegen, sodass eine gedeihliche Zusammenarbeit kaum möglich ist.
All diese Dinge führen zu Unruhe und immer höherer Belastung für Eltern, Großeltern, Lehrer, Erzieherinnen, also für jeden, der in irgendeinem Zusammenhang erzieherisch mit Kindern umgeht. Sie sehen sich stetigen Vorwürfen von Seiten der Gesellschaft ausgesetzt, viele »Experten« sagen ihre Meinung, bis hin zur totalen Boulevardisierung des Themas in Form von TV-Formaten wie der »Super- Nanny«.
Umso wichtiger ist die Feststellung, die auch als Folie für die Analyse in diesem Buch dienen kann: Die überwiegende Zahl dieser Kinder wirkt wie unerzogen, ist aber im Großen und Ganzen eher gut erzogen. Sie wirken wie unwillig, sind aber in Wirklichkeit überfordert.
Den Hintergrund dafür bilden also weder fehlende Erziehung noch individuelle neurotische Störungsbilder, sondern Entwicklungsstörungen im Hinblick auf die Psyche des Kindes.
Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass Kinder mit einer fertig entwickelten Psyche geboren werden. Wenn das der Fall wäre, könnten partnerschaftliche Beziehungsmodelle zwischen Erwachsenen und Kindern, wie sie heute schon in ganz frühen Jahren die Regel sind, tatsächlich Erfolg haben und das Kind gut begleiten. Es hat aber seinen Grund, warum ein partnerschaftlicher Erziehungsstil erst bei Jugendlichen im pubertierenden Alter nach und nach angebracht ist. Jüngere Kinder werden davon restlos überfordert, ihre Psyche bildet sich maßgeblich in Abhängigkeit vom Verhalten der sie umgebenden Erwachsenen, also insbesondere der Eltern.
Dieses erwachsene Verhalten ist eigentlich in uns angelegt, es liegt uns im Blut. Die Rede ist von Intuition. Einer Intuition, die Eltern ganz selbstverständlich mit ihren kleinen Kindern umgehen lässt, ohne sich Gedanken über Erziehungsstile und pädagogische Modelle zu machen.
Denken Sie an das Beispiel einer Mutter, die gerade eben ein Kind geboren hat. Der Säugling ist nicht in der Lage, sein Hungergefühl auch nur einen kurzen Moment zu unterdrücken und auszuhalten (was einem erwachsenen Menschen durchaus über einen längeren Zeitraum möglich ist). Sobald sich der Hunger meldet, meldet sich auch der Säugling. Er schreit. Das Verhalten der Mutter ist in diesem Moment keine Frage des Nachdenkens. Ihre Intuition weist ihr den Weg und führt dazu, dass sie sich sofort liebevoll dem Kind zuwendet und es sättigt. Wichtig in unserem Zusammenhang: Sie macht es aus dem Bauch heraus, denn würde sie den Säugling schreien lassen, führte das bei ihr selbst zu negativen körperlichen Reaktionen wie Schweißausbrüchen, Zittern und Ähnlichem. Sie wüsste intuitiv, dass sie sich falsch verhält, und würde Abhilfe schaffen, indem der Hunger des Kindes sofort gestillt wird.
Dieselbe Intuition führt dazu, dass die Mutter ein Kind mit etwa acht oder neun Monaten auch mal einen Moment warten lassen kann. Das Schreien löst nicht mehr die gleichen körperlichen Unruhezeichen aus, sondern aus ihrer inneren Ruhe und Intuition heraus »weiß« die Mutter, dass ein kurzer Moment des Wartens für das Kind in Ordnung ist. Dieser Moment, so kurz er auch sein mag, ist für die Psyche des Kindes von großer Bedeutung; er würde dem Kind ermöglichen zu erleben, dass es einmal einen kleinen Augenblick warten muss. Diese wichtige Erfahrung, dass ein Bedürfnis nicht immer sofort zufriedengestellt wird, würde bei einer fortlaufenden psychischen Entwicklung im Kindes- und Jugendalter dazu führen, dass dieses Kind auf späteren Altersstufen seine Bedürfnisse zu regeln versteht.
Als Erwachsene »wissen« wir, dass wir nicht immer alles sofort bekommen können. Dieses »Wissen« ist aber ein implizit psychisch angelegtes Wissen, das nicht auf einem verstandesmäßigen Erfassen beruht. Wir denken nicht dauernd darüber nach, ob wir ein Bedürfnis jetzt oder später befriedigen, sondern regeln solche Dinge ganz automatisch. Wenn ich in einer Besprechung sitze, stelle ich Bedürfnisse wie Hunger, Müdigkeit, emotionale Befindlichkeiten ganz selbstverständlich zurück und konzentriere mich auf meinen Gesprächspartner und den Inhalt der Besprechung. Ich weiß, essen, schlafen, andere Bedürfnisse sind zu einem anderen Zeitpunkt dran.
Die Frage, ab wann die Mutter ihr Kind einen kleinen Moment warten lassen kann, ist nicht über den Kopf zu steuern, sondern ausschließlich über das Bauchgefühl. Es kann kein Ratgeberwissen geben, das bestimmt, ob dieser Moment mit acht, mit neun oder auch erst mit zehn Monaten gekommen ist. Die Mutter selbst würde, wenn sie in einem intuitiven Verhältnis zu ihrem Kind ist, diesen Zeitpunkt bemerken und ab da ganz selbstverständlich so vorgehen. Auch die Länge des Wartens kann nicht vorgegeben werden. Die klassischen Ratschläge früherer Zeiten, in denen Eltern aufgefordert werden, in bestimmten Situationen bis zu einer bestimmten Zahl zu zählen, funktionieren so nicht. Das eine Kind kann eine Minute warten, das andere zwei. Die Mutter würde den richtigen Zeitraum auch hier wieder über die Beziehung zu ihrem Kind individuell herausfinden.
Doch nicht nur Eltern, auch Erwachsene, die im Bereich der öffentlichen Erziehung mit Kindern zu tun haben, sind in Gefahr, mit unangemessenen Verhaltensweisen die kindliche Psyche zu belasten, wie folgendes Extrembeispiel zeigt. Es ist einem Blog entnommen und beschreibt Vorgänge an einer Berliner Grundschule in der Folge der katastrophalen Geschehnisse in Japan im Frühjahr 2011:
»Was dieser Tage in der Schule meiner zwei Kinder (5. + 6. Klasse) abgeht, spottet jeder Beschreibung. Zum Teil kennt man das ja noch aus eigenen Schulzeiten, allerdings nicht aus der Grundschule. Dauernd musste man über das Waldsterben, das Ozonloch und den Atomkrieg schreiben, und irgendwelche Friedens-AGs haben auf dem Schulhof ›Fallout mit Sirenengeheul und anschließendem Niedersinken‹ oder ›Hilfe-wir-haben-demnächst- alle-Hautkrebs‹ veranstaltet usw. Aber so richtig ernsthaft psychisch mitgenommen hat das damals niemanden, soweit ich mich erinnere. Das ist jetzt offenbar anders. Ein Drittel der 5. Klasse ist inzwischen abwesend; Panikattacken, Nahrungsverweigerung oder Schlafmangel. [...]
Innerhalb einer Woche haben die beiden im Unterricht jeweils drei Filme zu Atomkatastrophen gesehen (eine vom Schulministerium über Tschernobyl, einen Spielfilm über eine [Atom?-]Giftwolke in Deutschland und einen über, glaube ich, Hiroshima; mit geburtsdefekten Lämmchen und haufenweise Verbrennungen in Schwarzweiß), 1 x Strahlenschutzanzüge aus Alufolien entworfen, 2 x an japanische Kinder, denen der Strahlentod droht, geschrieben, gefährliche Nahrungsmittel diskutiert, Milchpulver gehortet und an unzähligen Monologen der Lehrkräfte und der Stuhlkreisteilnehmer über ihre Angst vor dem Atom und dem Krebstod teilgenommen.«
Das mag auf den ersten Blick extrem wirken, es zeigt jedoch, warum wir die Dinge als Ganzes betrachten müssen. Kinder orientieren sich immer am Erwachsenen, ob gewollt oder ungewollt, ob es sich um Eltern, Lehrer, Erzieher, Großeltern oder wen auch immer handelt. Damit gestalten wir automatisch die Zukunft, in der wir zu einem kleineren, aber unsere Kinder und Enkel zu einem größeren Teil leben werden.
© Januar 2014 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Michael Winterhoff
Dr. Michael Winterhoff, geboren 1955, Dr. med., ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapie. Tergast, CarstenCarsten Tergast wurde 1973 in Leer/Ostfriesland geboren. Nach einer Lehre als Sortiments-Buchhändler absolvierte er ein Literatur- und Medienwissenschaftsstudium in Paderborn und arbeitete als freier Mitarbeiter des Westfalen-Blatts, sowie als Redakteur und Chef vom Dienst beim Branchenmagazin BuchMarkt. Seit Ende 2005 ist er freiberuflicher Journalist, Autor und Texter für verschiedene Print- und Online-Publikationen.
Produktdetails
- Autor: Michael Winterhoff
- 2013, 240 Seiten, Masse: 12,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442174104
- ISBN-13: 9783442174102
- Erscheinungsdatum: 10.12.2013
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