Nur für Linkshänder
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Spannende Einsichten in ein unterschätztes Alltagsphänomen.Wie viele Linkshänder gibt es? Die exakte Antwort auf diese Frage kennt niemand. Offiziell ist mehr als jeder zehnte Deutsche Linkshänder, die Dunkelziffer dürfte aber viel höher sein. Ist das...
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Produktinformationen zu „Nur für Linkshänder “
Klappentext zu „Nur für Linkshänder “
Spannende Einsichten in ein unterschätztes Alltagsphänomen.Wie viele Linkshänder gibt es? Die exakte Antwort auf diese Frage kennt niemand. Offiziell ist mehr als jeder zehnte Deutsche Linkshänder, die Dunkelziffer dürfte aber viel höher sein. Ist das überhaupt wichtig? Der Wissenschaftsjournalist und Biologe Sebastian Jutzi meint: Unbedingt! Denn vieles in der Natur ist rechts oder links gestrickt, selbst in der Tierwelt existieren Links- und Rechtshänder.Wichtige Bausteine des menschlichen Körpers sind links- oder rechtshändig. Nicht nur Katzen, Papageien oder Affen bevorzugen für bestimmte Tätigkeiten die Linke - oder die Rechte. Die Wurzeln der Händigkeit reichen so tief, dass selbst bei intensivstem Training aus einem Linkshänder niemals ein echter Rechtshänder wird. Wer die Linkshändigkeit versteht, erfährt mehr über das Wesen Mensch, angefangen bei seinen Genen und seinem Gehirn bis hin zur Geschichte, Sprache und Pädagogik.
Lese-Probe zu „Nur für Linkshänder “
Nur für Linkshänder von Sebastian JutziDer Speer des Zorro und der Fall des Dr. Watson
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Als der deutsche Speerwerfer Matthias de Zordo während der Leichtathletik-Europameisterschaft am 31. Juli 2010 im Olympiastadion von Barcelona zu seinem zweiten Versuch im laufenden Wettbewerb ansetzte, ahnte keiner der Zuschauer, was sich in den kommenden Sekunden abspielen würde. Der Sportler, glücklich über seine bereits im ersten Versuch erzielte persönliche Bestleistung von 86,22 Metern, lief an, schleuderte seinen Speer mit aller Macht in den Abendhimmel und schickte dem Wurfgerät einen gewaltigen Schrei hinterher. Nach einem langen Flug bohrte sich die Speerspitze deutlich über der 85-Meter-Marke in den Rasen. Die Siegerpose de Zordos, dem seine Freunde den Spitznamen »Zorro« gaben, ließ nicht lange auf sich warten. Schließlich verkündeten die Kampfrichter die Weite des Wurfs: 87,81 Meter. Erneut eine persönliche Bestleistung und Weltrekord - für Linkshänder.
Obwohl noch nie in einem offiziellen Wettkampf ein Linkshänder seinen Speer weiter geworfen hatte, musste sich de Zordo dem amtierenden Weltmeister und Olympiasieger Andreas Thorkildsen - einem Rechtshänder - geschlagen geben und wurde Vize-Europameister in seiner Disziplin. Gut ein Jahr später erkämpfte sich de Zordo bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft die Goldmedaille - allerdings mit »nur« 86.27 Metern.
Wie soll man den Weltrekord de Zordos bewerten: Herausragende Leistung oder Spitzenwert innerhalb einer Exotengruppe?
Gleichgültig zu welchem Schluss man kommt, er wird die uralte Konfrontation zwischen links und rechts nicht beenden. Ist ein Mensch Rechtshänder oder Linkshänder? Weshalb existieren Linkshänder - oder Rechtshänder? Seit wann gibt es überhaupt Rechtshänder - oder Linkshänder? Was bringt dem Menschen mehr Vor- oder Nachteile? Was verrät das Wesen der Linkshänder über die Rechtshänder - und umgekehrt? Wird es einmal keine Rechtshänder mehr geben? Oder sterben die Linkshänder aus?
Seit Jahrtausenden beschäftigen sich Menschen mit den Fragen rund um die Händigkeit. Die Suche nach den Antworten erstreckt sich in viele Dimensionen. Zeitlich reicht sie bis zu den frühen Wurzeln der Menschheit vor etwa zwei Millionen Jahren. Räumlich taucht sie bis in die molekularen Tiefen des Lebens. Anatomisch erschließt sie die Eigenheiten unseres Körpers. Biographisch entschlüsselt sie Rätsel um die Entwicklung des Individuums. Schließlich eröffnet sie uns historische oder boulevardesque Perspektiven auf herausragende oder nur prominente Persönlichkeiten.
Wer sich auf die Spuren der Linkshändigkeit setzt, entdeckt, weshalb man Menschen wie Marionetten manipulieren kann, dass die linke Hand manchmal mehr weiß als die rechte oder wieso die Bevorzugung einer Seite keine Frage der Hände und beileibe nicht nur dem Menschen vorbehalten ist.
Hinter dem augenscheinlichen Phänomen der Linkshändigkeit verbirgt sich ein viel weiter reichendes, das Biologen, Mediziner und Psychologen als Lateralität bezeichnen. Gemeint ist damit zunächst lediglich die Bevorzugung einer Körper- oder Organseite bei bestimmten Wahrnehmungen, Tätigkeiten oder auch einfach nur die Lage von Organen.
Drei weithin in Vergessenheit geratene Namen von Ärzten, die im 19. Jahrhundert lebten, verbinden sich mit entscheidenden Entdeckungen zu diesem Phänomen.
Im Herbst des Jahres 1835 starb der 48-jährige John Reid in einem Londoner Krankenhaus. Von ihm oder seinem Leben wäre der Nachwelt nichts Nennenswertes überliefert, hätte sein Arzt Thomas Watson nicht wissen wollen, was denn nun die Todesursache gewesen sei. Bei der Obduktion seines Patienten entdeckte Dr. Watson zwar nicht, weshalb der Mann das Zeitliche segnen musste, aber die erstaunliche Tatsache, das Reids Organe seitenverkehrt in seinen Körperhöhlen gelagert waren. Das Herz lag rechts, ebenso wie Magen und Milz, wohingegen die Leber sich links eingeordnet hatte.
Trotz dieser Spiegelung seines Inneren hatte Reid bis zu seinem Tod weitgehend beschwerdefrei gelebt. Etwa ein halbes Jahr später erfuhr Dr. Watson von einem ähnlichen Kuriosum, nur dass es sich diesmal um eine an Durchfall gestorbene Frau handelte. Watson folgerte messerscharf, dass die bislang als gültig angesehene Anordnung der Organe nicht zwangsläufig für deren Funktion notwendig ist. Die spiegelverkehrte Positionierung gewährleistete ein ebenso reibungsloses Arbeiten der Organe. Die übliche Lateralität, also Herz links, Leber rechts und so weiter, war offensichtlich austauschbar. Angeregt durch diese Beobachtung ließ sich Watson zu der Spekulation hinreißen, die eigentliche Händigkeit, also das Bevorzugen der Hand einer Seite, müsste biologisch betrachtet in der Bevölkerung gleich verteilt sein. Die beobachtbare Abweichung könne demnach nur kulturell, also durch das Umerziehen von Linkshändern, begründet sein.
Zur gleichen Zeit machte der französische Arzt Marc Dax die Entdeckung, dass entscheidende Sprachzentren in der linken Gehirnhälfte des Menschen angesiedelt sind. Dax fasste seine Erkenntnisse zusammen und trug sie im Juli 1836 einer Konferenz von Medizinern vor - ohne Aufsehen zu erregen. Erst 1861 veröffentlichte sein Sohn, Gustave, ein Manuskript, das die Gedanken seines Vaters zusammenfasste. Marc Dax hatte mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor einen Kavallerie-Hauptmann der französischen Armee untersucht. Dieser hatte eine Schädelverletzung durch einen schweren Säbelhieb davongetragen. Der Schlag hatte die linke Hälfte des Schädels getroffen und der Offizier litt seither unter eine Sprachschwäche. Unter anderem konnte er sich nicht mehr an bestimmt Worte erinnern. Das brachte Dax zu seiner - wie sich erst viel später herausstellen sollte, richtigen Vermutung, dass Sprache zu wesentlichen Teilen in der linken Gehirnhälfte verarbeitet beziehungsweise produziert wird.
Die Veröffentlichung von Dax' Gedanken durch seinen Sohn geschah gerade noch rechtzeitig, so dass sich sein Vater den Ruhm, der Entdecker dieses wichtigen Faktums zu sein, mit Paul Broca teilen konnte. Der ebenfalls aus Frankreich stammende Arzt hatte wie Dax erkannt, dass menschliches Sprachvermögen entscheidend mit der linken Gehirnhälfte gekoppelt ist. Er fand heraus, dass bestimmte Körperfunktionen wesentlich von nur einer Seite des Gehirns gesteuert werden.
Seitdem ist der Streit um links und rechts auf eine naturwissenschaftliche Grundlage gestellt. Wissenschaftliche Arbeiten zur Lateralisation reihen sich tausendfach aneinander. Trotzdem führen sie nicht immer zu einem sachlichen, rationalen Umgang mit dem Thema, wie Linkshänder bestätigen werden.
Bei der Erklärung, weshalb gerade die Linkshändigkeit provozierend auf Rechtshänder wirkt, zu Vorurteilen verleitet und zu Fehl- oder sogar Überreaktionen führen kann, hilft ein Blick auf die Biologie des Menschen.
Beim Betrachten der untenstehenden Abbildung 1 glauben wir, dass Feld B des Schachbrettmusters deutlich heller als Feld A sei. In Wirklichkeit weisen beide denselben Grau
Abb.1 Das Feld B wirkt eindeutig heller als Feld A, eine Folge der Verrechnung in unserem Gehirn. In Wirklichkeit haben beide Felder denselben Grauwert.
wert auf. Das ist tatsächlich so, auch wenn man es kaum glauben mag.
Die eigentliche Wahrnehmung geschieht in unserem Gehirn. Dort werden millionenfach Reize, die von den Sinnesorganen anfluten, verarbeitet. Eine Möglichkeit der Rationalisierung ist dabei das Erkennen und Fortschreiben von Mustern, in unserem konkreten Fall des Schachbrettmusters. Derlei vereinfachende Verarbeitung der Reize geschieht sogar bereits im Auge.
Hinzu kommt die Alltagserfahrung des Gehirns, dass Flächen im Schatten gewöhnlich dunkler sind als solche im Licht. Kurzerhand bastelt das Gehirn daraus jenes vermeintlich korrekt fortlaufende Schachbrettmuster, das wir beim Betrachten von Abbildung 1 sehen. Selbst wenn wir wissen, dass wir uns täuschen, unser Gehirn besteht auf seiner Version der Realität.
Das Beispiel macht klar, wie sehr der Mensch abhängig ist von seiner optischen Wahrnehmung und ihren biologischen Grundregeln. Sie bedingt, dass wir ständig auf der Suche nach Mustern sind. Was nicht passt, wird eben passend gedacht. Deshalb richtet sich das Augenmerk jener Menschen, die bevorzugt ihre rechte Hand für bestimmte Tätigkeiten benutzen, auf die Linkshändigkeit als offensichtlichste Ausprägung einer Lateralisation, und passt sie in bestimmte Muster ein. Der Mensch ist - auch wenn er sich weigert - also manchmal hilflos gegen das, was ihm sein Gehirn vorgaukelt. Das Muster gewinnt, selbst wenn wir uns dagegen sträuben.
Verstärkt wird diese Tendenz des Menschen durch eine zweite Neigung: den Hang zur sogenannten In-Group. Mit diesem Fachbegriff bezeichnen Forscher alle Angehörigen einer bestimmten Gruppe. Wer dazugehört, ist »in« der Gruppe. Gerne geben sich die Mitglieder solcher Gruppen einander zu erkennen, beispielsweise durch äußere Kennzeichen wie Embleme und Uniformen oder durch Gesten, Verhaltens- oder Ausdrucksweisen.
Wie tief diese Tendenz zu unserer eigenen, wie auch immer definierten Gruppe in uns wurzelt, zeigen zwei Experimente, die der Psychologe Kurt Hugenberg an der Miami Universität in Florida durchführte. Sie verdeutlichen Mechanismen, die wohl auch der Attitüde von Rechtshändern gegenüber Linkshänden zugrunde liegen.
Hugenberg präsentierte Studenten seiner Universität Bilder von Männer-Gesichtern. Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal während einer ersten Lernphase war der Hintergrund. Die eine Hälfte der vorgeführten Gesichter wurde vor rotem Hintergrund präsentiert, die andere Hälfte vor grünem. Zusätzlich wurde den Probanden gesagt, die Gesichter vor rotem Hintergrund gehörten direkten Kommilitonen, die vor grünem Hintergrund stammten von Studenten einer anderen Hochschule. Anschließend wurden den Probanden diese Gesichter vermischt mit neuen Konterfeis gezeigt. Ergebnis: Die Studenten erkannten ihre vermeintlichen Kommilitonen, die angeblich zur selben Universität gehörten, wesentlich besser als die Fremden. Sie zeigten eine deutliche Tendenz zu ihrer eigenen Gruppe, die sich in diesem Fall von anderen lediglich durch die vorgebliche Zugehörigkeit zu ein und derselben Universität unterschied.
In einem zweiten Versuch mussten die Probanden zunächst einen schriftlichen Fragebogen ausfüllen. Die Auswertung der Befragung, stufte die Teilnehmer entweder als »grüne« oder »rote« Persönlichkeit ein, was den Studenten auch mitgeteilt wurde. Anschließend zeigte man ihnen Gesichter, die lediglich mit dem jeweiligen Wort als »grüne« oder »rote« Persönlichkeit gekennzeichnet waren. In dieser Abfolge von Konterfeis erkannten die Versuchspersonen auch hier jene Gesichter, die ihrer eigenen Persönlichkeitskategorie zugeordnet waren, wesentlich besser als andere. Die Roten erkannten besonders gut andere Rote, die Grünen besonders gut die Grünen. Sie zeigten wieder eine deutliche Tendenz zu ihrer eigenen Gruppe.
Hugenbergs Ergebnis, wie viele andere Experimente auch, bestätigen das Sprichwort: »Gleich und gleich gesellt sich gern.« Man könnte es sogar dahingehend erweitern, dass sich gleich und gleich auch besonders gut erkennt beziehungsweise wiedererkennt.
Wenn also Rechtshänder etwas verwundert ihr linkshändiges Gegenüber betrachten und dazu neigen, ihm mit einer Flut von Vorurteilen zu begegnen, dann sollten sich Linkshänder nicht sofort darüber ärgern. Der Hang zur Musterbildung und -erkennung, begründet in der Biologie des Menschen, verleitet Rechtshänder dazu, Linkshänder zumindest als merkwürdig einzustufen. Getreu dem Muster: Was nicht ich bin, muss etwas Anderes sein - und das ist im Zweifel erst einmal merkwürdig.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Als der deutsche Speerwerfer Matthias de Zordo während der Leichtathletik-Europameisterschaft am 31. Juli 2010 im Olympiastadion von Barcelona zu seinem zweiten Versuch im laufenden Wettbewerb ansetzte, ahnte keiner der Zuschauer, was sich in den kommenden Sekunden abspielen würde. Der Sportler, glücklich über seine bereits im ersten Versuch erzielte persönliche Bestleistung von 86,22 Metern, lief an, schleuderte seinen Speer mit aller Macht in den Abendhimmel und schickte dem Wurfgerät einen gewaltigen Schrei hinterher. Nach einem langen Flug bohrte sich die Speerspitze deutlich über der 85-Meter-Marke in den Rasen. Die Siegerpose de Zordos, dem seine Freunde den Spitznamen »Zorro« gaben, ließ nicht lange auf sich warten. Schließlich verkündeten die Kampfrichter die Weite des Wurfs: 87,81 Meter. Erneut eine persönliche Bestleistung und Weltrekord - für Linkshänder.
Obwohl noch nie in einem offiziellen Wettkampf ein Linkshänder seinen Speer weiter geworfen hatte, musste sich de Zordo dem amtierenden Weltmeister und Olympiasieger Andreas Thorkildsen - einem Rechtshänder - geschlagen geben und wurde Vize-Europameister in seiner Disziplin. Gut ein Jahr später erkämpfte sich de Zordo bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft die Goldmedaille - allerdings mit »nur« 86.27 Metern.
Wie soll man den Weltrekord de Zordos bewerten: Herausragende Leistung oder Spitzenwert innerhalb einer Exotengruppe?
Gleichgültig zu welchem Schluss man kommt, er wird die uralte Konfrontation zwischen links und rechts nicht beenden. Ist ein Mensch Rechtshänder oder Linkshänder? Weshalb existieren Linkshänder - oder Rechtshänder? Seit wann gibt es überhaupt Rechtshänder - oder Linkshänder? Was bringt dem Menschen mehr Vor- oder Nachteile? Was verrät das Wesen der Linkshänder über die Rechtshänder - und umgekehrt? Wird es einmal keine Rechtshänder mehr geben? Oder sterben die Linkshänder aus?
Seit Jahrtausenden beschäftigen sich Menschen mit den Fragen rund um die Händigkeit. Die Suche nach den Antworten erstreckt sich in viele Dimensionen. Zeitlich reicht sie bis zu den frühen Wurzeln der Menschheit vor etwa zwei Millionen Jahren. Räumlich taucht sie bis in die molekularen Tiefen des Lebens. Anatomisch erschließt sie die Eigenheiten unseres Körpers. Biographisch entschlüsselt sie Rätsel um die Entwicklung des Individuums. Schließlich eröffnet sie uns historische oder boulevardesque Perspektiven auf herausragende oder nur prominente Persönlichkeiten.
Wer sich auf die Spuren der Linkshändigkeit setzt, entdeckt, weshalb man Menschen wie Marionetten manipulieren kann, dass die linke Hand manchmal mehr weiß als die rechte oder wieso die Bevorzugung einer Seite keine Frage der Hände und beileibe nicht nur dem Menschen vorbehalten ist.
Hinter dem augenscheinlichen Phänomen der Linkshändigkeit verbirgt sich ein viel weiter reichendes, das Biologen, Mediziner und Psychologen als Lateralität bezeichnen. Gemeint ist damit zunächst lediglich die Bevorzugung einer Körper- oder Organseite bei bestimmten Wahrnehmungen, Tätigkeiten oder auch einfach nur die Lage von Organen.
Drei weithin in Vergessenheit geratene Namen von Ärzten, die im 19. Jahrhundert lebten, verbinden sich mit entscheidenden Entdeckungen zu diesem Phänomen.
Im Herbst des Jahres 1835 starb der 48-jährige John Reid in einem Londoner Krankenhaus. Von ihm oder seinem Leben wäre der Nachwelt nichts Nennenswertes überliefert, hätte sein Arzt Thomas Watson nicht wissen wollen, was denn nun die Todesursache gewesen sei. Bei der Obduktion seines Patienten entdeckte Dr. Watson zwar nicht, weshalb der Mann das Zeitliche segnen musste, aber die erstaunliche Tatsache, das Reids Organe seitenverkehrt in seinen Körperhöhlen gelagert waren. Das Herz lag rechts, ebenso wie Magen und Milz, wohingegen die Leber sich links eingeordnet hatte.
Trotz dieser Spiegelung seines Inneren hatte Reid bis zu seinem Tod weitgehend beschwerdefrei gelebt. Etwa ein halbes Jahr später erfuhr Dr. Watson von einem ähnlichen Kuriosum, nur dass es sich diesmal um eine an Durchfall gestorbene Frau handelte. Watson folgerte messerscharf, dass die bislang als gültig angesehene Anordnung der Organe nicht zwangsläufig für deren Funktion notwendig ist. Die spiegelverkehrte Positionierung gewährleistete ein ebenso reibungsloses Arbeiten der Organe. Die übliche Lateralität, also Herz links, Leber rechts und so weiter, war offensichtlich austauschbar. Angeregt durch diese Beobachtung ließ sich Watson zu der Spekulation hinreißen, die eigentliche Händigkeit, also das Bevorzugen der Hand einer Seite, müsste biologisch betrachtet in der Bevölkerung gleich verteilt sein. Die beobachtbare Abweichung könne demnach nur kulturell, also durch das Umerziehen von Linkshändern, begründet sein.
Zur gleichen Zeit machte der französische Arzt Marc Dax die Entdeckung, dass entscheidende Sprachzentren in der linken Gehirnhälfte des Menschen angesiedelt sind. Dax fasste seine Erkenntnisse zusammen und trug sie im Juli 1836 einer Konferenz von Medizinern vor - ohne Aufsehen zu erregen. Erst 1861 veröffentlichte sein Sohn, Gustave, ein Manuskript, das die Gedanken seines Vaters zusammenfasste. Marc Dax hatte mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor einen Kavallerie-Hauptmann der französischen Armee untersucht. Dieser hatte eine Schädelverletzung durch einen schweren Säbelhieb davongetragen. Der Schlag hatte die linke Hälfte des Schädels getroffen und der Offizier litt seither unter eine Sprachschwäche. Unter anderem konnte er sich nicht mehr an bestimmt Worte erinnern. Das brachte Dax zu seiner - wie sich erst viel später herausstellen sollte, richtigen Vermutung, dass Sprache zu wesentlichen Teilen in der linken Gehirnhälfte verarbeitet beziehungsweise produziert wird.
Die Veröffentlichung von Dax' Gedanken durch seinen Sohn geschah gerade noch rechtzeitig, so dass sich sein Vater den Ruhm, der Entdecker dieses wichtigen Faktums zu sein, mit Paul Broca teilen konnte. Der ebenfalls aus Frankreich stammende Arzt hatte wie Dax erkannt, dass menschliches Sprachvermögen entscheidend mit der linken Gehirnhälfte gekoppelt ist. Er fand heraus, dass bestimmte Körperfunktionen wesentlich von nur einer Seite des Gehirns gesteuert werden.
Seitdem ist der Streit um links und rechts auf eine naturwissenschaftliche Grundlage gestellt. Wissenschaftliche Arbeiten zur Lateralisation reihen sich tausendfach aneinander. Trotzdem führen sie nicht immer zu einem sachlichen, rationalen Umgang mit dem Thema, wie Linkshänder bestätigen werden.
Bei der Erklärung, weshalb gerade die Linkshändigkeit provozierend auf Rechtshänder wirkt, zu Vorurteilen verleitet und zu Fehl- oder sogar Überreaktionen führen kann, hilft ein Blick auf die Biologie des Menschen.
Beim Betrachten der untenstehenden Abbildung 1 glauben wir, dass Feld B des Schachbrettmusters deutlich heller als Feld A sei. In Wirklichkeit weisen beide denselben Grau
Abb.1 Das Feld B wirkt eindeutig heller als Feld A, eine Folge der Verrechnung in unserem Gehirn. In Wirklichkeit haben beide Felder denselben Grauwert.
wert auf. Das ist tatsächlich so, auch wenn man es kaum glauben mag.
Die eigentliche Wahrnehmung geschieht in unserem Gehirn. Dort werden millionenfach Reize, die von den Sinnesorganen anfluten, verarbeitet. Eine Möglichkeit der Rationalisierung ist dabei das Erkennen und Fortschreiben von Mustern, in unserem konkreten Fall des Schachbrettmusters. Derlei vereinfachende Verarbeitung der Reize geschieht sogar bereits im Auge.
Hinzu kommt die Alltagserfahrung des Gehirns, dass Flächen im Schatten gewöhnlich dunkler sind als solche im Licht. Kurzerhand bastelt das Gehirn daraus jenes vermeintlich korrekt fortlaufende Schachbrettmuster, das wir beim Betrachten von Abbildung 1 sehen. Selbst wenn wir wissen, dass wir uns täuschen, unser Gehirn besteht auf seiner Version der Realität.
Das Beispiel macht klar, wie sehr der Mensch abhängig ist von seiner optischen Wahrnehmung und ihren biologischen Grundregeln. Sie bedingt, dass wir ständig auf der Suche nach Mustern sind. Was nicht passt, wird eben passend gedacht. Deshalb richtet sich das Augenmerk jener Menschen, die bevorzugt ihre rechte Hand für bestimmte Tätigkeiten benutzen, auf die Linkshändigkeit als offensichtlichste Ausprägung einer Lateralisation, und passt sie in bestimmte Muster ein. Der Mensch ist - auch wenn er sich weigert - also manchmal hilflos gegen das, was ihm sein Gehirn vorgaukelt. Das Muster gewinnt, selbst wenn wir uns dagegen sträuben.
Verstärkt wird diese Tendenz des Menschen durch eine zweite Neigung: den Hang zur sogenannten In-Group. Mit diesem Fachbegriff bezeichnen Forscher alle Angehörigen einer bestimmten Gruppe. Wer dazugehört, ist »in« der Gruppe. Gerne geben sich die Mitglieder solcher Gruppen einander zu erkennen, beispielsweise durch äußere Kennzeichen wie Embleme und Uniformen oder durch Gesten, Verhaltens- oder Ausdrucksweisen.
Wie tief diese Tendenz zu unserer eigenen, wie auch immer definierten Gruppe in uns wurzelt, zeigen zwei Experimente, die der Psychologe Kurt Hugenberg an der Miami Universität in Florida durchführte. Sie verdeutlichen Mechanismen, die wohl auch der Attitüde von Rechtshändern gegenüber Linkshänden zugrunde liegen.
Hugenberg präsentierte Studenten seiner Universität Bilder von Männer-Gesichtern. Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal während einer ersten Lernphase war der Hintergrund. Die eine Hälfte der vorgeführten Gesichter wurde vor rotem Hintergrund präsentiert, die andere Hälfte vor grünem. Zusätzlich wurde den Probanden gesagt, die Gesichter vor rotem Hintergrund gehörten direkten Kommilitonen, die vor grünem Hintergrund stammten von Studenten einer anderen Hochschule. Anschließend wurden den Probanden diese Gesichter vermischt mit neuen Konterfeis gezeigt. Ergebnis: Die Studenten erkannten ihre vermeintlichen Kommilitonen, die angeblich zur selben Universität gehörten, wesentlich besser als die Fremden. Sie zeigten eine deutliche Tendenz zu ihrer eigenen Gruppe, die sich in diesem Fall von anderen lediglich durch die vorgebliche Zugehörigkeit zu ein und derselben Universität unterschied.
In einem zweiten Versuch mussten die Probanden zunächst einen schriftlichen Fragebogen ausfüllen. Die Auswertung der Befragung, stufte die Teilnehmer entweder als »grüne« oder »rote« Persönlichkeit ein, was den Studenten auch mitgeteilt wurde. Anschließend zeigte man ihnen Gesichter, die lediglich mit dem jeweiligen Wort als »grüne« oder »rote« Persönlichkeit gekennzeichnet waren. In dieser Abfolge von Konterfeis erkannten die Versuchspersonen auch hier jene Gesichter, die ihrer eigenen Persönlichkeitskategorie zugeordnet waren, wesentlich besser als andere. Die Roten erkannten besonders gut andere Rote, die Grünen besonders gut die Grünen. Sie zeigten wieder eine deutliche Tendenz zu ihrer eigenen Gruppe.
Hugenbergs Ergebnis, wie viele andere Experimente auch, bestätigen das Sprichwort: »Gleich und gleich gesellt sich gern.« Man könnte es sogar dahingehend erweitern, dass sich gleich und gleich auch besonders gut erkennt beziehungsweise wiedererkennt.
Wenn also Rechtshänder etwas verwundert ihr linkshändiges Gegenüber betrachten und dazu neigen, ihm mit einer Flut von Vorurteilen zu begegnen, dann sollten sich Linkshänder nicht sofort darüber ärgern. Der Hang zur Musterbildung und -erkennung, begründet in der Biologie des Menschen, verleitet Rechtshänder dazu, Linkshänder zumindest als merkwürdig einzustufen. Getreu dem Muster: Was nicht ich bin, muss etwas Anderes sein - und das ist im Zweifel erst einmal merkwürdig.
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Autoren-Porträt von Sebastian Jutzi
Sebastian Jutzi, geboren 1967 in Bad Kreuznach, hat Biologie und Journalistik studiert. Er arbeitete u.a. für bild der wissenschaft und das ZDF. Von 2001 bis 2013 schrieb er als Wissenschafts- und Technik-Redakteur für das Nachrichtenmagazin FOCUS. Ab 2014 ist er Chefredakteur der Zeitschrift natur.
Produktdetails
- Autor: Sebastian Jutzi
- 2014, 2. Auflage, 334 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596195233
- ISBN-13: 9783596195237
- Erscheinungsdatum: 26.06.2014
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